Wie Deutschlands älteste Buchhändlerin gegen Algorithmen besteht

Die Buchhandlung Weyhe in Salzwedel wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch Besucher entdecken Romane, Novellen, Gedichte und Sachbücher, die überraschend zeitlos sind. Denn die 95jährige Inhaberin Helga Weyhe gibt so gute und treffende Empfehlungen, dass Online-Händler mit ihren Algorithmen blass aussehen. Ein Beispiel für einzigartige Buch-Kultur in Zeiten der Digitalisierung. Und das in der Provinz: in der Altmark in Sachsen-Anhalt.

Helga Weyhe in ihrer Buchhandlung

Onkel Erhard aus New York

Vor dem Laden

Die Sonne hat den Buchrücken im Schaufenster zugesetzt. Beim Betreten des Fachwerkhauses knarzen die Dielen. Schwere Bände stehen in Holzregalen aus der Kaiserzeit. Es riecht nach Fußbodenöl und Papier, ein Traum für Lesenarren. Auf den Tischen liegen ausgewählte Neuerscheinungen auf Antiquarischem, farbenfrohe Kinderbücher neben nüchternen Rückblicken auf die deutsche oder amerikanische Historie. Und im Hinterzimmer summt der Computer.

Helga Weyhe, geboren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, tippt Bestellungen ein. Ganz nah rückt Deutschlands älteste Buchhändlerin an den Bildschirm heran, damit die Lesebrille ihren Dienst tut. Bücher heute geordert, morgen da: Das funktioniert auch in diesem 178 Jahre alten Laden, den Helga Weyhe in dritter Generation führt. Service war schon dem Vater und dem Urgroßvater sehr wichtig, sagt sie. Selbstverständlich ist, dass sie das Geschäft an sechs Tagen pro Woche öffnet; auch wenn die Glieder schwer sind und das Bein geschwollen ist. Die Kunden kommen, um Helga Weyhes Rat zu hören, aber auch, um Tipps für den Besuch in der bezaubernden, 25.000-Einwohner großen Hansestadt Salzwedel zu erhalten. Nur mittags von 13 bis 15 Uhr gönnt sie sich eine Pause, und samstags um 13 Uhr beginnt das Wochenende. 

Großes Gespür für gute Lektüre entwickelt

Die kleine Frau besitzt ein einzigartiges Gespür für gute Bücher. Sie wählt genau aus, was auf den Ladentisch kommt. „Ich bemühe mich, das vorzuhalten, was es woanders nicht gibt“, sagt sie. Aus einem Überangebot nur das Beste für die Stammkunden zu filtern, ist ihr eine Herzensangelegenheit. Zu fast jedem Band in Salzwedels Altperverstraße 11 kann sie etwas sagen, hat ihn zumindest einmal quergelesen.

Nicht alles trifft ihren persönlichen Geschmack. „Ich habe unterschiedliche Kunden“, sagt sie knapp. Krimis zum Beispiel mag Helga Weyhe nicht, ebenso wenig wie Bestseller-Stapel. Nur eine Ausnahme bestätigt die Regel: Ihr liebstes Kinderbuch „Stoffel fliegt übers Meer“ von Erika Mann liegt mehrfach direkt neben der Kasse. Heute hat Helga Wehye es schon fünfmal verkauft, insgesamt bestimmt 600 Mal. Sie war zehn Jahre alt, als der Vater es ihr zu lesen gab, wie so viele Kinderbücher. Ihre Schwester und sie sollten herausfinden, was sich zu Weihnachten für die jüngeren Leser eignete.

Die Buchhandlung selbst besteht ununterbrochen seit 178 Jahren. In der Wohnung darüber wurde Helga Weyhe geboren. Es klingt, als hätte die Ehrenbürgerin der Stadt Salzwedel niemals fort gewollt, doch ohne Krieg und Mauerbau wäre sie vielleicht nach New York gezogen. Denn dort, in der 794 Lexington Avenue, führte ihr Onkel Erhard die „Weyhe Art Books“ und die „Weyhe Gallery“. Er galt als ein herausragender, wenn nicht der Kunstbuchhändler New Yorks, arbeitete auch als Verleger und förderte junge Künstler. Helga Weyhe reiste erst 1982 nach New York, für fünf Wochen – und schwärmt bis heute von der Metropole.

Selbst Erlebtes führt zu einem gelassenen Blick auf das Tagesgeschehen

Sie hat so viele politische Systeme erlebt, dass sie heute gelassen auf das Tagesgeschehen blickt und entsprechend „zeitlos“ beraten kann: die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, die Sowjetische Besatzungszone, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland. Der Großvater war noch im Deutsch-Französischen Krieg gewesen, ehe er 1871 die Buchhandlung übernahm. Helga Weyhe selbst studierte ab 1941 Geschichte und Deutsch in Breslau, in Königsberg und in Wien. Wegen der „Kriegswirren“ musste sie 1944 das Studium abbrechen und kam zurück in die Altmark. Ab 1945 arbeitete sie in der Buchhandlung ihres Vaters und wurde 1965 selbst Chefin. Private Buchläden hatten es nicht leicht in der DDR. Gegenüber volkseigenen Betrieben wurde sie benachteiligt, etwa dann, wenn es um begehrte Lizenzausgaben ging. Gewöhnt hat sich Helga Weyhe an solche Ungerechtigkeiten nicht, „aber man musste damit leben.“ Die Mauer schnitt sie von zahlreichen Kunden ab, man verkaufte vor allem Fachbücher. Der Mauerfall brachte neue Herausforderungen, vor allem ein Überangebot an Büchern. Sie holte sich Rat von Kollegen aus dem „Westen“, etwa aus Lüneburg und Lüchow, und von Verlagsvertretern, denen sie vertraute. Hoffmann und Campe mit seinem Atlantik-Verlag gehört dazu und einige weitere. Damit ist sie bis heute gut gefahren.

Über E-Book-Reader: „sehr praktisch, zum Beispiel für Studenten“

Aktuell liest die Buchhändlerin Günter de Bruyns druckfrisches Werk „Der neunzigste Geburtstag.“ „Er ist ein fabelhafter Stilist. Das Buch kommt mir doch sehr entgegen“, lautet ihr Urteil. Reizvoll sei auch das Neueste über den „99-Tage-Kaiser“ Friedrich III., „das wurde schon nachgefragt. Und bei Beck ist ein Buch über Friedrich II. erschienen, den Sizilianer. Das stelle ich gleich ins Fenster.“

Wie sie E-Book-Reader findet? „Die werden bei mir nicht bestellt“, sagt sie. Selbst hat sie auch noch keinen in der Hand gehalten, zeigt sich aber offen für Neues: „Ich finde das sehr praktisch, zum Beispiel für Studenten, die unterwegs sind und schnell ein Kapitel lesen müssen. Das müsste man sich einmal genauer ansehen.“

Sonderpreis des Deutschen Buchhandlungspreises für Helga Weyhe

2017 erhielt Helga Weyhe den Sonderpreis des Deutschen Buchhandlungspreises, für ihre „langjährigen und herausragenden Verdienste um den deutschen Buchhandel“.

Seitdem finden noch mehr Touristen aus ganz Deutschland den Weg in die Altperverstraße. Manche nutzen die gute Zugverbindung aus Hamburg und Berlin für einen Abstecher in die Hanse- und Baumkuchenstadt Salzwedel

Für 2019 plant Helga Weyhe wieder eine Buchlesung. „Dafür suche ich noch jemanden. Das Richtige habe ich noch nicht gefunden. Zuletzt war Wiebke Bruns hier, die war sehr angenehm. Und die Nachfrage war groß. Wir mussten umziehen von der Bibliothek ins Kulturhaus. Sie wissen schon, in den „Grauen Wilhelm.“ Von Paul Auster hat Helga Weyhe einmal gesprochen. Aber sie weiß, dass der weltbekannte Autor aus New York nicht einfach so in die Altmark kommt.

Wie es auf lange Sicht weitergeht mit der Buchhandlung? Eine gute Beziehung besteht zur Großnichte, die ebenfalls gelernte Buchhändlerin ist. Doch erst einmal will Helga Weyhe „weitermachen, solange ich den Kopf gerade halten kann“.

 

Mehr über Helga Weyhe findet sich auch bei youtube

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