„Der große Elefant im Raum“: weniger Autos

Der Krieg in der Ukraine führt uns täglich vor Augen, wie extrem abhängig Deutschland von fossiler Energie ist. Diese Erkenntnis wird auch unsere private Mobilität radikal verändern. In einem Ausmaß, das vor Wochen undenkbar schien. Spannende Ansätze kommen zum Beispiel aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Erdkunde-Unterricht in den 1970er Jahren: Der Lehrer hat einen grobkörnigen Film über die Westküste der USA eingespult. Wir sehen: eine typische Vorstadt-Siedlung, Mittelklasse-Einfamilienhäuser mit großzügigen Rasenflächen, breiten Garagen und mehreren Parkplätzen auf jedem Grundstück. Wir staunen: So ziemlich jeder Haushalt verfügt über zwei Autos. Mindestens!! Eine Frau mit opulenter Fönfrisur steigt in ihre Limousine und fährt 300 Meter bis zum nächsten Postkasten. Die Reaktion im Klassenraum: allgemeine Empörung der Babyboomer angesichts von so viel Überfluss. Und unterschwellig wohl auch ein bisschen Neid.

Alle könnten vorn sitzen

Gelernt hat unsere Generation jedenfalls wenig aus dem Anschauungsmaterial, wie Statistiken zeigen. Weltweit sind immer mehr SUV unterwegs. Im Jahr 2021 erreichte die Zahl der Neuzulassungen mit 35,9 Millionen einen Rekordwert. Das entsprach einem Marktanteil von 49,5 Prozent. In Deutschland gibt es so viele Pkw, dass alle 83 Millionen Einwohner vorn sitzen könnten. Auf dem Weg zur Arbeit machen es sich durchschnittlich 1,2 Personen im Wagen bequem. Außerdem führt fast die Hälfe der Autofahrten in Deutschland (43 Prozent) maximal fünf Kilometer weit. Eine Entfernung, die sich durchaus mit dem Rad bewältigen lässt.

„Wie irrational das Ganze ist“, verdeutlichte Dr. phil. habil. Weert Canzler anhand dieser Daten in seinem Impulsvortrag am „Tag der nachhaltigen Unternehmen 2022“ im Rahmen der KlimaWoche Bielefeld. Canzler leitet die Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ (DiMo) am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

„Das werden sich die anderen Sektoren auf Dauer nicht gefallen lassen“

Eine Erklärung für unser Verhalten mag sein, dass das Auto einen gewissen „Aufforderungscharakter“ besitzt. Eine Entschuldigung ist das aber nicht angesichts der Herausforderungen, die der Klimawandel an uns stellt. Insgesamt zeigt sich: Der Transportsektor fährt anderen Bereichen in Sachen Dekarbonisierung deutlich hinterher, als da sind: Landwirtschaft, Energie etc. „Das werden sich die anderen Sektoren wohl auf Dauer nicht gefallen lassen“, so Canzler.

Doppel-Lösung aus Antriebs- und Verkehrswende

Was also tun? Konstruktive Vorschläge lieferte Weert Canzler in seiner Keynote. Der Titel: „Mobilität im Wandel: emissionsfrei und vernetzt“. Für den Verkehrssektor schlägt er eine „Doppel-Lösung“ vor, eine Kombination aus Antriebs- und Mobilitätswende.

Unter „Antriebswende“ versteht er dabei die Elektrifizierung von Fahrzeugen auf Basis erneuerbarer Energien. Allerdings schränkt der Wissenschaftler ein: „Es ist nicht viel erreicht, wenn wir jetzt alle 48 Millionen Pkw in der Bundesrepublik elektrifizieren.“

Vielmehr müsse eine „Mobilitätswende“ her, die ihren Namen verdient. Also: mit weniger Autos, mehr Rad- und Fußverkehr, einem besseren und moderneren ÖPNV und weniger auf das Auto fixiertem „Zwangsverkehr“. Es gehe also auch darum, Anlässe zu verringern, die uns zwingen, große Distanzen überwinden zu müssen. Die Mobilitätswende sei überfällig, so Canzler weiter, „da wir einen immensen Raumbedarf haben bei extremer Verschwendung von Ressourcen aufgrund der Ineffektivität des privaten Autos“. Man betrachte allein das Verhältnis von zwei Tonnen SUV-Gewicht zu gerade einmal 85 Kilogramm Lebendgewicht im Innenraum.

Eine Alternative: Ein Sharing-Fahrzeug mit bidirektionalem Ladevorgang

Für den Mobilitätsforscher steht fest: „Die Chancen liegen jenseits des privaten Autos.“ Eine intelligentere Nutzung könne nur im Sharing-Betrieb liegen, zum Beispiel mit neuartigen Fahrzeugen, die Solarzellen nutzen und einen bidirektionalen Ladevorgang bieten.

Immer noch ein Tabuthema

Aktuell sieht die Lage so aus: In jedem Jahr kommen zu den vielen Millionen Fahrzeugen in Deutschland weitere 250.000 bis 300.000 hinzu. Weert Canzler: „Wenn man wirklich eine Verkehrswende will, dann heißt das zum Beispiel: kurzfristig Subventionen abbauen, ein Tempolimit durchsetzen, mittelfristig die externen Kosten für den motorisierten Verkehr internalisieren und Investitionen umlenken und drittens für einen Konsens sorgen, dass man weniger Autos und mehr vernetzte Mobilität will.“

Nur: Für viele bleibt die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) ein Tabuthema, sozusagen der „Elefant im Raum“, wie Weert Canzler es formuliert. Sein Fazit: „Solange wir den Konsens nicht haben, dass weniger Autos mehr Mobilität bedeuten, werden wir immer an der Sache vorbeireden.“

Seinen Vortrag hielt der Mobilitätsforscher zu Beginn des Kriegs in der Ukraine. Womöglich veranlasst die Disruption, welche der Konflikt mit sich bringt, uns doch noch dazu, den Elefanten endlich aus dem Raum zu schieben.

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