Vermutlich noch erstaunlicher: Als wichtigste Lektüre für Kommilitonen quer durch alle Fachrichtungen gilt in den Vereinigten Staaten eine Stilfibel, verfasst im Jahre 1918: „The Elements of Style“ von William Strunk Jr. Die Basis für solche Erkenntnisse liefern Daten, die eine amerikanische Projektgruppe der New Yorker Columbia University mit Hilfe der Suchmaschine „Open Syllabus Explorer“ (OSE) zusammengetragen hat. Mehr als eine Million Kurslisten englischsprachiger Hochschulen haben die Wissenschaftler auf diese Weise durchstöbert.
Was die Ivy League liest
Christopher Ingraham von der Washington Post wollte es noch genauer wissen: Er hat analysiert, „was Ivy League-Studenten lesen, das du nicht liest." Und siehe da: Selbst in Eliteschmieden wie Harvard oder Princeton landet „The Elements of Style“ auf oberen Plätzen, hinter Platons „Der Staat“, Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“ und noch vor anderen politisch-philosophischen Schriften.
Na toll, lässt sich einwenden, warum sollte uns hier in Deutschland interessieren, womit sich die amerikanischen Führungskräfte von morgen befassen? Ganz einfach: Weil solche schnöden Uni-Listen ein Indiz dafür liefern, worauf Erfolg in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft beruht. Dazu gehört offenbar, sich gut verständlich auszudrücken.
Meister dürfen Regeln brechen
Gern schneiden wir uns ein Stück von dem vermeintlichen Herrschaftswissen ab. Schließlich kann ein jeder sich das 85-Seiten-Bändchen zu Gemüte führen. Es geht um elementare Regeln für einen schlichten, klaren Stil. Überflüssige Worte und Sätze – weg damit. In eine Maschine baue man ja auch keine unnötigen Teile ein, erklärt Strunk. Er liebt das Aktive, Konkrete. Für jedes Thema empfiehlt er beispielsweise einen eigenen Absatz.
Zunächst gelte es, die Grundregeln zu begreifen und anzuwenden, schreibt der Professor für Englisch an der Cornell-Universität. Erst wer sein Handwerk beherrscht, möge die Geheimnisse des Schreibstils meisterlicher Schriftsteller ergründen. Denn, und das ist häufig das Geheimnis: Immer wieder brechen sie Regeln. Das gilt auch für Mary Shelleys „Frankenstein“. Doch Vorsicht vor der Übernahme zu vieler stilistischer Eigenheiten. Wie schreibt Shelly selbst so schön: „Nothing is as painful to the human mind as a great and sudden change.“
Bloß keine „Ärmelschonerprosa“
Es muss gar kein Stil-Buch aus Übersee sein. In Deutschland finden wir in Wolf Schneider einen hervorragenden Sprachkritiker und Stil-Lehrer: „Man schreibe kurzweilig und nicht langweilig, muskulös und nicht fett, körnig und nicht seifig, konkret und nicht abstrakt“, fordert er. Besonders graut ihm vor einschüchternden Behörden-Texten und vor der „Ärmelschonerprosa derer, die nichts zu sagen haben oder nichts sagen wollen oder nichts sagen dürfen, aber trotzdem schreiben.“*
Texten – eine Qual?
Verständlich bleiben und den Leser für sich gewinnen: Das ist alles andere als leicht. Wolf Schneiders Fazit nach jahrzehntelanger Arbeit als Journalist und Leiter der Hamburger Journalistenschule: „Ohne Qual entsteht kein Text.“ Zwar habe Johann Wolfgang von Goethe behauptet, dass ihm mache Gedichte binnen weniger Minuten geglückt seien. „Aber seine Biographen weisen ihm nach: Er hat gelogen“, so Schneider.
Wenn Monumente wanken
Es kann Mut machen, wenn Monumente wie Goethe auf ihrem Podest wanken. Also ´ran an die Qual: die Gedanken ordnen, texten und dabei ab und an in eine gute Stilfibel schauen. Nicht jede Regel, die vor fast 100 Jahren aufgestellt wurde, muss dabei sklavisch befolgt werden. Sprache und Stil ändern sich. Treffend hat es Leser „mike“ in seiner Buchrezension im Internet formuliert: „“The Elements of Style lesen und die Style Regeln auch für die deutsche Sprache anwenden. Und dann selbst denken. Wuff.“
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*Wolf Schneider: Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte.
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